Blinde Flecken der Diversitätsdebatte

Unternehmen bekennen sich eifrig zu Vielfalt. Unklar bleibt aber oft, was erreicht werden soll. Geht es um Gleichheit oder um Geld?

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Aus der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Seite 16, Mittwoch, 23. August 2023, Nr. 195
von Prof. Michael Grünberger (Präsident Bucerius Law School, ab dem 01. Oktober 2023)

Diversität (diversity, Vielfalt) ist ein schillernder Begriff geblieben. Vielleicht auch deshalb hat sich Diversität als unternehmerische Zielvorgabe in Deutschland etabliert. Neben der allgemeinen „Charta der Vielfalt für Diversity in der Arbeitswelt“ gibt es speziell für den Rechtsmarkt die Initiative „General Counsel for Diversity & inclusion“. Rechtsabteilungen großer Unternehmen und alle namhaften Großkanzleien haben diese Selbstverpflichtungen unterzeichnet. Sie bekennen sich damit zu „diversity, equity and inclusion“ (DE&I) – also zu Diversität, Gleichstellung und gleicher Teilhabe.

Manche Kanzleien haben verbindliche Diversity-Grundsätze beschlossen, in denen sie ein Arbeitsumfeld bieten, in dem Chancengleichheit gefördert wird. Andere haben einen „Diversity-Plan“ mit Zielquoten für Geschlecht, ethnische Herkunft, die Anzahl schwarzer Associates und LGBTQ+-Partner und Partnerinnen aufgestellt. Das Diversitätsdefizit, das vor zwei Jahren Gegenstand des Essays „Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis“ war, wird also mittlerweile in der Praxis zumindest teilweise als Problem wahrgenommen.

Über drei Dinge ist aber weiter zu diskutieren: über die Legitimation von DE&I, über die Identifikation von Diversitätsdefiziten und über angemessene Reaktionen auf diese Defizite. Nach wie vor unklar ist trotz der zahlreichen Debatten über Vielfalt, welchen Zweck Diversitätsprogramme primär verfolgen. Zugespitzt gefragt: Geht es um Gleichheit oder Geld? Diversität kann beim Gleichheitsanspruch der Betroffenen ansetzen. Ihre Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass die Vielfalt menschlicher Identitäten zu einer gleichberechtigten Teilhabe führt und eine entsprechende Mitwirkung in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen sichergestellt wird. So verstanden adressieren DE&I die vielen sozialen Mechanismen, die zu (struktureller) Diskriminierung, Exklusion und damit zu faktischer Ungleichheit führen. Ziel ist die gleiche Partizipation trotz oder gerade wegen Faktoren, die häufig mit den in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) aufgelisteten klassischen Diskriminierungskategorien übereinstimmen (Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität).

Diversität kann aber auch ein Mittel zur Förderung wirtschaftlicher Interessen sein. Was damit gemeint ist, zeigt der „business case for diversity“ des Beratungsunternehmens McKinsey. Danach gibt es eine positive Korrelation zwischen einer Verstärkung der Diversitätsdimensionen Geschlecht beziehungsweise ethnische Herkunft und den Unternehmensergebnissen. Zumindest gibt es belastbare Anhaltspunkte, dass die Arbeitszufriedenheit – und damit die Leistungen – bei einem guten Diversitätsmanagement steigt.

Diversität ist im Wirtschaftssystem anschlussfähig, weil sie die Sprache des Geldes spricht. Sie ist ein Mittel, um ökonomische oder sonstige systemspezifische Eigenzwecke zu erreichen. Der Katalog möglicher Diversitätsfaktoren geht dann weit über die klassischen Diskriminierungskategorien hinaus: Alle persönlichen Eigenschaften können relevant sein, die irgendwie zur Förderung des Unternehmens- oder Institutionszwecks beitragen könnten. Dieser Legitimationsansatz erklärt den Erfolg von „Diversität“. Er hat aber Defizite: ein unmittelbarer (kausaler) Zusammenhang lässt sich bislang nicht nachweisen. Der business case läuft auch Gefahr, an Stereotype anzuknüpfen und sie damit wieder zu legitimieren. Insbesondere für die Rechtspraxis genügt es nicht, Diversität „irgendwie“ zu verbessern. Man muss schon Ursachenforschung betreiben.

Ein ernst gemeintes DE&I-Programm setzt dort an, wo es in der (privaten) Rechtspraxis zugangshindernde Diversitätsprobleme gibt. Es adressiert soziale Exklusionsmechanismen und strukturelle Diskriminierungen. Auf vielfache Weise sind Menschen betroffen, die aufgrund ihrer Hautfarbe Diskriminierung erfahren. Ein anderes Diversitätsdefizit besteht bei Frauen in höheren Hierarchie und Gehaltsstufen. Für weitere klassische Diskriminierungskategorien wie sexuelle Identität oder Religion (häufig in Kombination mit rassischen Markierungen) fehlen uns Zahlen; diese könnten gute Diversitätsprogramme liefern! Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die sozioökonomische Herkunft. Zeitgemäße DE&I-Maßnahmen sehen diesen diskriminierungsrechtlich blinden Fleck.

Ein erfolgreiches DE&I-Programm bedarf konkreter Initiativen und Maßnahmen, das heißt, Diversität muss durchgängig und sichtbar auf allen Ebenen der Institution implementiert und als strategische Leitungsaufgabe verankert werden. DE&I ist bei allen personen- und ressourcenbezogenen Entscheidungen und strukturellen Maßnahmen zu beachten. Der Instrumentenkasten positiver Maßnahmen kennt auch Zielvorgaben. Diese müssen grundsätzlich gerechtfertigt werden, wenn sie als Vorzugsregelung zugleich ein Individuum aufgrund ihrer Anknüpfung an eine Diskriminierungskategorie benachteiligen, wie etwa die umstrittenen Förderquoten. Daran sind jüngst die auf Diversität gestützten Aufnahmekriterien amerikanischer Universitäten vor dem Supreme Court gescheitert. Das wirft die Frage nach der Zukunft unternehmerischer Diversitätskonzepte auf, deren Zielvorgaben bewusst auf Diskriminierungskategorien wie „race“ und „sex“ abstellen.

In Europa ist die Rechtslage anders. Faktische Ungleichheiten dürfen nach unions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben unter bestimmten Voraussetzungen auch von privaten Akteuren mit positiven Maßnahmen (§ 5 AGG) adressiert werden. Die Zukunft von DE&I dürfte daher in Europa liegen. dieses Potenzial sollte sich die Rechtspraxis erschließen!

Text

Prof. Michael Grünberger

Hamburg