„Immer Ärger im Sozialstaat“

Fall des Trimesters

Hartz IV – die sog. „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ – soll den Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 SGB II). Doch wird dieses Versprechen auch eingelöst? Welche sozialstaatlichen Probleme beim Bezug des Existenzminimums auch 15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV aufkommen können, ist Thema dieses „Fall des Trimesters“.

Mit der Rubrik „Fall des Trimesters“ eröffnet Ihnen die Law Clinic an der Bucerius Law School einen Einblick in die Tätigkeit unserer Pro Bono Rechtsberatung. Im Anschluss an eine kurze Vorstellung des Sachverhalts schildern wir Ihnen den Verlauf der Beratung und die Eindrücke unserer studentischen Rechtsberater:innen.

Im Sommer 2021 kam Frau F zu uns in die Law Clinic. Sie hatte eine Tochter, für die sie seit ihrer Geburt Kindergeld bezog. Ihr Ehemann litt an einer schweren psychischen Krankheit, weshalb er sich nicht um ihre gemeinsame Tochter kümmern konnte. Im Laufe der letzten Jahre war auch Frau F schwer erkrankt, hatte ihren Job verloren und lebte von Hartz IV. Ihre Tochter wurde mit Hilfe des Jugendamtes zunächst in einer Tagespflege, später in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen und schließlich in einer Pflegefamilie untergebracht. Sie besuchte Frau F an jedem Wochenende. Den Kontakt zur Law Clinic nahm Frau F auf, weil sie Post von der Familienkasse erhalten hatte: Die Behörde forderte von ihr die sofortige Zahlung einer vierstelligen Summe.

Wie konnte es so weit kommen? Frau F hatte seit der Geburt ihrer Tochter in regelmäßigen Abständen Kindergeld beantragt und die dafür erforderlichen Angaben gemacht. Aufgrund ihrer Erkrankung und einiger Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte sie sich dabei auf den Rat eines Verwandten verlassen. Dieser riet ihr beim gemeinsamen Ausfüllen der Antragsunterlagen, (wahrheitswidrig) anzugeben, dass ihre Tochter bei ihr wohne. Ihre Angabe rechtfertige sich laut des Verwandten dadurch, dass Frau F ihre Tochter an den Wochenenden regelmäßig betreue und sich ohnehin seit Langem wünsche, die Sorge um ihre Tochter wieder permanent zu übernehmen. Im Frühjahr 2021 fand die Familienkasse heraus, dass die Tochter bereits seit mehreren Jahren maßgeblich von der Pflegefamilie betreut worden war – und Frau Fs Anspruch auf das regelmäßig ausgezahlte Kindergeld längst entfallen war. Die Familienkasse verlangte das geleistete Geld nun – zu Recht – von Frau F zurück.

Exkurs: Die Höhe des Kindergeldes wird in Deutschland regelmäßig angepasst. In den letzten zehn Jahren lag der Auszahlungsbetrag zwischen 184 EUR und 219 EUR für das erste Kind. Der Betrag wird monatlich ausgezahlt.

Bis hierher erscheint der Fall klar: Frau F hat staatliche Leistungen bezogen, die ihr nicht zustanden, und ist nun verpflichtet, sie zurückzuzahlen. Das Problem dieses Falles ist ein anderes: Frau F lebte in der (unberechtigten) Bezugszeit des Kindergeldes von Hartz IV. Bei der Beantragung dieser Sozialleistung gab sie die Zahlungen der Familienkasse vorschriftsgemäß als „Einkunft“ an und ließ sie bei der Berechnung ihres Leistungsanspruchs berücksichtigen. Der Hartz IV-Regelsatz, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Existenzminimum entspricht, wurde ihr dementsprechend um den Betrag des Kindergeldes gekürzt. „Unter dem Strich“ hatte Frau F deshalb – trotz der Zahlungen der Kindergeldkasse – im Bezugszeitraum keinen Cent mehr erhalten, als der Sozialstaat zur Existenzsicherung garantiert.

Nach derzeitiger Rechtslage lässt sich die Rückzahlungspflicht dennoch nicht umgehen: Grund dafür ist, dass die staatlichen Leistungen – hier die Hartz IV- und die Kindergeldzahlungen – aus unterschiedlichen Staatskassen finanziert werden. Während der Rückforderungsanspruch der Familienkasse juristisch nicht zu beanstanden ist, mangelt es an einer gesetzlichen Regelung, die Frau F einen nachträglichen „Mehr“-Anspruch gegenüber der Sozialhilfekasse gewähren würde. Anders formuliert: Die Hartz IV-Kasse kann die Anrechnung der Kindergeldzahlungen rückwirkend nicht aufheben und Frau F das „Zu-wenig“ an Hartz IV-Leistungen zukommen lassen. Stattdessen musste unsere (zahlungsunfähige) Mandantin bei der Familienkasse eine Stundung beantragen und wird monatlich bis zu 10 % ihres Hartz IV-Satzes an die Familienkasse überweisen müssen. Auf diese Weise werden ihre Sozialleistungen rückwirkend auf ein Niveau herabgesetzt, das weit unter dem sozialstaatlich garantierten Existenzminimum liegt.

Leider ist diese Konstellation bei weitem kein Einzelfall: Die Law Clinic beriet in der Vergangenheit weitere Ratsuchende, für die nach derzeitiger Rechtslage kein Weg an der Rückzahlung vorbeiführt. Trotzdem ist die Zahlung der Schulden zumeist nicht die einzige Sorge, mit der unsere Mandant:innen in die Law Clinic kommen. Frau F hatte beispielsweise von einer Mitarbeiterin der Kindergeldkasse erfahren, dass der unberechtigte Bezug von Sozialleistungen in Deutschland strafbewährt ist (Betrug, § 263 StGB). Dennoch werden die Angaben bei der Hartz IV-Kasse regelmäßig als Beweis dafür ausreichen, dass sie sich nicht an den Kindergeldzahlungen bereichern wollte, sondern ihr schlicht ein Fehler unterlaufen ist.

Was lässt sich aus diesem Fall mitnehmen? Offensichtlich trägt die derzeitige Rechtslage nicht dazu bei, das gesetzliche Ziel der Grundsicherung – nämlich, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte „ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können“ (§ 1 Abs. 2 S. 1 SGB II) – Wirklichkeit werden zu lassen. Stattdessen sehen sich unsere Mandant:innen mit einer eklatanten Ungerechtigkeit konfrontiert, die in einem Sozialstaat undenkbar sein müsste.

Legal Adviser: Felix Daase & Klara Lübbers 

Text

Klara Lübbers

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