Larissa Bahmer: Zum Hintergrund der „Berlinwahl 2.0"

Larissa Bahmer über die wiederholten Wahlen in Berlin – und warum diese bis vor wenigen Tagen noch ungewiss waren. – Fofftein – Folge #28.

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Wer prüft die Durchführung von Wahlen und entscheidet über deren Gültigkeit?

Die Überprüfung von Wahlen zum deutschen Bundestag ist nach Artikel 41 des Grundgesetzes Sache des Bundestages. Dieses sog. „Selbstprüfungsrecht“ des Parlaments ist historisch begründet. Gegen die Entscheidung des Bundestages kann aber Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden, das dann letztverbindlich entscheidet.

Für Wahlen auf Landesebene gibt uns das jeweilige Landesrecht Auskunft. Auch dort beginnt die Überprüfung von Wahlen in der Regel bei den Landesparlamenten. Nur in Berlin ist der Verfassungsgerichtshof direkt zuständig und seine Entscheidung ist unanfechtbar.

Bei den Wahlen am 26. September 2022 wurde gleichzeitig auf Bundes- und auf Landesebene in Berlin gewählt. Für die Bundestagswahl hat der Deutsche Bundestag eine Wiederholung in einigen Berliner Wahlbezirken beschlossen. Über die Wahlen auf Landesebene hat am 16. November 2022 der Berliner Verfassungsgerichtshof entschieden.

 

Wie kam der Verfassungsgerichtshof zu dieser Entscheidung?

Nach den Wahlen am 26. September 2021 hatten den Verfassungsgerichtshof Berlin zahlreiche Einsprüche erreicht. Im Wahlprüfungsverfahren hat dieser die Wahlen dann genau überprüft und dazu die umfangreichen Protokolle aus den Wahllokalen sowie die Daten der Landeswahlleitung ausgewertet. Auf dieser Grundlage stellte der Verfassungsgerichtshof dann zahlreiche Fehler bei der Wahldurchführung fest und erkannte sie als Verstöße gegen die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundsätze der allgemeinen, freien und gleichen Wahl.

 

 

Ein Tag – viele Pannen

So konnten viele Wahlberechtigte ihre Stimmen gar nicht erst an der Urne abgeben, weil es viel zu wenige Wahllokale gab, die dann teilweise hoffnungslos überfüllt waren.

Manche Wahllokale ließ man deswegen auch nach 18 Uhr geöffnet und damit länger als gesetzlich erlaubt. Das ist problematisch, weil dann schon die ersten Prognosen veröffentlicht waren. Personen, die nach 18 Uhr wählen durften, konnten also anhand der sich bereits abzeichnenden Mehrheitsverhältnissen noch wahltaktische Entscheidungen treffen, obwohl eine Wahl gerade nicht von solchen Erwägungen beeinflusst werden soll. Außerdem waren einige Wahllokale zwischenzeitlich auch während der gesetzlich vorgesehenen Wahlzeit geschlossen, weil Stimmzettel fehlten.

Rund um diese Stimmzettel gab es zudem weitere schwerwiegende Fehler. Weil manche Wahllokale zu wenige erhalten hatten und Nachlieferungen stockten, wurden Stimmzettel teilweise einfach in den Wahllokalen kopiert. Kopien erfüllen aber nicht die gesetzlichen Anforderungen, denn Stimmzettel sind amtliche Dokumente und dürfen nur von der zuständigen Behörde ausgestellt werden.

Zusätzlich ergab sich das Problem, dass bei den Kopien die gesetzlich vorgegebene Reihenfolge der Parteien auf den Seiten wohl nicht immer eingehalten wurde. Der Verfassungsgerichtshof schloss daraus, dass alle auf kopierten Stimmzetteln abgegebenen Stimmen ungültig sind.

In fast der Hälfte der Berliner Bezirke haben die Wahllokale außerdem fehlerhafte Stimmzettel ausgegeben, die vorher zwischen den Wahlkreisen vertauscht worden waren und die somit nicht die richtigen Kandidat*innen auswiesen. Auch die hierauf abgegebenen Stimmen sind ungültig. Insgesamt waren nach den Berechnungen der Verfassungsgerichtshofs 20.000 bis 30.000 Stimmen wegen der Wahlfehler ungültig.

 

Wahlfehler auch erheblich?

Aufgrund dieser Fehler wurde Tausenden Berliner*innen ihr Recht auf die Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess durch Wahlen verwehrt. Darüber hinaus hat der Verfassungsgerichtshof auch überprüft, ob sich die Fehler auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben, denn nicht jeder Verstoß gegen die Grundsätze demokratischer Wahlen führt auch zur Ungültigkeit der Wahl. Es kommt insbesondere auf die Mandatsrelevanz der Verstöße an; also darauf, ob die Fehler die Verteilung der Mandate beeinflussen.

Nach den Berechnungen des Verfassungsgerichtshof waren etwa 60% der Sitze und damit eine große Anzahl der Mandate im Abgeordnetenhaus von den schweren Wahlfehlern betroffen. Deshalb und weil laut Verfassungsgerichtshof bei einer Teilwiederholung ganz erhebliche und nicht mehr hinnehmbare Verzerrungen gedroht hätten, weil es unterschiedliche Wahlzeitpunkte gegeben hätte, war die Wahl aus Sicht des Gerichts insgesamt nicht mehr zu retten.

Diese Entscheidung war jedoch nicht unumstritten: Für die komplette Wiederholung der Wahl stimmten sieben Richter*innen und zwei dagegen. Eine Richterin hat ihre abweichende Auffassung auch in einem Sondervotum begründet, was bei Verfassungsgerichtsentscheidungen nur sehr selten passiert.

 

Wie kam es nun zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, und was folgt daraus?

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Berlin ist zwar unanfechtbar, allerdings haben sich mehrere Personen im Anschluss mit Verfassungsbeschwerden an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Grundsätzlich ist das gegen jeden Akt der Staatsgewalten möglich, also auch gegen Urteile der Landesverfassungsgerichte als Teil der Judikative.

Die Verfassungsbeschwerde ist allerdings ein sog. „außerordentlicher Rechtsbehelf“. Man kann mit ihr nicht einfach jede staatliche oder gerichtliche Entscheidung noch einmal insgesamt überprüfen lassen. Gerügt werden kann nur die Verletzung von Grundrechten oder von grundrechtsgleichen Rechten, die in Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4a) des Grundgesetzes abschließend aufgeführt sind. Nicht dort aufgeführt ist Artikel 28 des GG. Aus diesem ergibt sich, dass die Wahlen in den Ländern allgemein, unmittelbar, gleich, frei und geheim sein müssen.

Ob eine Wahl in den Ländern diesen Wahlrechtsgrundsätzen genügte, überprüft also nicht das Bundesverfassungsgericht. Bereits in früheren Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht die Bürger*innen so auch schon auf die Verfassungsgerichte der Länder verwiesen.

 

Vermutlich haben die Beschwerdeführer*innen ihre Verfassungsbeschwerde deswegen maßgeblich auf das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes gestützt. Dabei handelt es sich tatsächlich um ein grundrechtsgleiches Recht. Man könnte es verletzt sehen, weil der Verfassungsgerichtshof vor seiner Entscheidung nicht das Bundesverfassungsgericht konsultiert hat. Eine sog. „Divergenzvorlage“ ist nämlich nach Artikel 100 Absatz 3 des Grundgesetzes unter anderem dann nötig, wenn ein Landesverfassungsgericht bei der Auslegung des Grundgesetzes von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichen will. Das kann sich auch auf die Auslegung der Wahlrechtsgrundsätze beziehen.

Im konkreten Fall käme es also darauf an, ob der Verfassungsgerichtshof bei der Auslegung und Anwendung dieser Wahlrechtsgrundsätze als Maßstab für die Überprüfung der Wahl von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen ist.

Ein gewisses Indiz dafür, dass die Richter*innen des Bundesverfassungsgerichts das nicht so sehen, ist die nun am 25. Januar dort ergangene Entscheidung im Eilverfahren. Die Beschwerdeführer*innen hatten nämlich sog. „einstweilige Anordnungen“ beantragt, um zu verhindern, dass die Wahl im Februar wiederholt wird. Ihre Anträge wurden allerdings abgelehnt. Diese Eilentscheidung ist außergewöhnlich. Anders als üblich hat das Bundesverfassungsgericht sie nämlich nicht sofort begründet, sondern es wird die Begründung nachreichen. Manche Beobachter*innen interpretieren das so, dass die Entscheidung unter den Richter*innen in Karlsruhe umstritten war.

Eines ist aber nun gewiss: Am 12. Februar wird in Berlin gewählt.

 


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Welche Auswirkungen hat die „Wahlwiederholung“ konkret für den Senat und das Landesparlament?

Zunächst zur offensichtlichsten Folge: In Berlin müssen das Abgeordnetenhaus sowie die Bezirksverordnetenversammlung neu gewählt werden, und zwar nach dem Landeswahlgesetz innerhalb von 90 Tagen nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshof.

Diese Entscheidung wirkt, in juristischen Worten ausgedrückt, „ex nunc“, also ab dem Zeitpunkt ihrer Verkündung, sodass es keinen parlamentslosen Zustand gibt oder gab. Auf die Zeit vor der Entscheidung des Verfassungsgerichtshof hat die Ungültigkeitserklärung keinerlei Auswirkung. So bleiben etwa sämtliche beschlossenen Gesetze in Kraft. Im Zeitraum der Entscheidung und der Wiederholungswahl sind bzw. waren das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung weiter berechtigt, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Dies soll laut Verfassungsgerichtshof allerdings nur mit dem gebotenen Maß der Zurückhaltung erfolgen.

Auch fängt mit der Wiederholungswahl die Wahlperiode nicht neu zu laufen an. Für den Senat, also für die Regierung des Landes Berlin sowie für die Regierende Bürgermeisterin, hat die Wiederholungswahl deshalb keine direkten Konsequenzen. Im Falle einer Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse bei der Wiederholungswahl könnte die Landesregierung aber verstärkt unter politischen Druck geraten. Außerdem ist denkbar, dass das neu zusammengesetzte Abgeordnetenhaus dem Senat mit der Mehrheit seiner Mitglieder das Vertrauen entzieht. In diesem Fall müsste nach der Verfassung des Landes Berlin der Senat neu gebildet werden. Insgesamt versprechen die Vorgänge und Diskussionen rund um die Wiederholungswahl in Berlin also sowohl rechtlich als auch politisch noch monatelang spannend zu bleiben!

 

Aktualisierung: Neue Aspekte des Beschlusses

Die Begründung der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde Mitte Mai veröffentlicht. Der Beschluss vom 25. Januar 2023, geführt unter dem Aktenzeichen 2 BvR 2189/22, gibt nun Auskunft darüber, worauf die Beschwerdeführer*innen ihre Verfassungsbeschwerden tatsächlich gestützt haben. Ein zentraler Aspekt war in der Tat, dass der Verfassungsgerichtshof keine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht angestrengt hat. Außerdem ist aus dem Beschluss ersichtlich, wie die Richter*innen in Karlsruhe im sogenannten Hauptsacheverfahren endgültig entscheiden werden: Sie werden die Verfassungsbeschwerden als unzulässig zurückweisen. Damit ist bis zur turnusgemäßen Neuwahl das Ergebnis der Wiederholungswahl gültig.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigt in der Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Überprüfung von Wahlen in den Ländern Sache der Landesverfassungsgerichte ist. Der Beschluss enthält dabei aber bemerkenswerte neue Aspekte, von denen hier nur zwei hervorgehoben werden sollen.

Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht erstmals ausdrücklich entschieden, dass Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte zur Gültigkeit von Wahlen auch nicht unter Berufung auf die Garantie des gesetzlichen Richters angegriffen werden können. Die Beschwerdeführer*innen dringen also auch nicht mit ihrer Argumentation durch, dass wegen einer Abweichung vom Verständnis der Wahlrechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vorlage notwendig gewesen wäre.

Ob eine solche Abweichung vorlag, hat das Bundesverfassungsgericht gar nicht geprüft. Vielmehr hat es auch hier betont, dass es im „Verfassungsraum“ der Länder Aufgabe ihrer Landesverfassungsgerichte sei, Streitigkeiten abschließend zu entscheiden. Dieser Grundsatz würde umgangen, wenn über das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter die Auslegung der Wahlgrundsätze in den Ländern mittelbar doch überprüft werden könnte.

Davon, dass Landesverfassungsgerichte zur Vorlage verpflichtet sind, wenn sie die für die Landes- und Bundesebene gleichlautenden Wahlgrundsätze anders als das Bundesverfassungsgericht auslegen wollen, rückt das Bundesverfassungsgericht zwar nicht ab. Einzelne Bürger*innen könnten die Einhaltung dieser Vorlagepflicht aber nicht einfordern.

Beachtlich ist zum anderen, dass das Bundesverfassungsgericht die alleinige Zuständigkeit der Landesverfassungsgerichte zur Überprüfung von Wahlen unter einen Vorbehalt gestellt hat. Die alleinige Zuständigkeit soll nur bestehen, solange die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und die Überprüfung von Wahlen durch die Landesverfassungsgerichte rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen genügen, die sich aus dem sogenannten Homogenitätsgebot in Art. 28 Absatz 1 des Grundgesetzes ableiten lassen.

In Berlin haben sich aus der Sicht der Richter*innen insoweit keine durchgreifenden Zweifel ergeben, sodass das Bundesverfassungsgericht sich nicht ausnahmsweise zu einer Kontrolle veranlasst sah. In der bisherigen Rechtsprechung war ein solcher Vorbehalt nicht thematisiert worden. Augenscheinlich wollte das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der noch weiter ausgedehnten Sperrwirkung von Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte nicht jegliche Kontrollmöglichkeit aufgeben.

Damit bleibt hinsichtlich der Pannen-Wahl in Berlin im November 2021 nur noch eines zu klären: Ob auch die Entscheidung des Bundestags, dass die Wahlen zum Bundestag teilweise wiederholt werden müssen, Bestand haben wird. Mitte Juli wurde darüber in Karlsruhe verhandelt, eine Entscheidung steht aber noch aus.

 

Text

Larissa Bahmer

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