Prof. Matthias Jacobs: Stechuhr oder Vertrauensarbeitszeit?

Prof. Matthias Jacobs ordnet den neuen BAG-Beschluss ein und gibt einen Ausblick auf dessen Folgen für die Arbeitswelt – Fofftein – Folge #26

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Der Stechuhrbeschluss des Bundesarbeitsgerichts hat so viel Aufsehen erregt wie schon lange keine Entscheidung mehr. Es befasst sich mit dem umstrittenen Thema Arbeitszeiterfassung, das fast jeden auch persönlich betrifft. Prof. Dr. Matthias Jacobs stellt vor, was die Entscheidung besagt, ob sie überzeugt, ob alle Arbeitgeber automatisch zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind und wie es nun weitergeht.

 

Was hat das Bundesarbeitsgericht genau entschieden?

Das BAG hatte eigentlich zu entscheiden, ob der Betriebsrat gegen den Willen des Arbeitgebers ein System der Arbeitszeiterfassung durchsetzen kann. Diese Frage hat es allerdings gar nicht beantwortet, es bestehe nämlich schon kein entsprechendes Mitbestimmungsrecht, weil der Arbeitgeber bereits gesetzlich zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems verpflichtet sei.

Der Erste Senat liest eine solche Pflicht einfach in § 3 des Arbeitsschutzgesetzes hinein. Dessen Wortlaut gibt dafür zwar nichts her, darüber setzt sich der Senat aber im Wege unionsrechtskonformer Auslegung einfach hinweg. Der Europäische Gerichtshof hatte nämlich bereits 2019 für die Arbeitszeitrichtlinie eine Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung bejaht und die Mitgliedstaaten aufgefordert, entsprechende Gesetze zu erlassen.

Überzeugt der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts?

Unter dem Vorbehalt, dass Prof. Jacobs bis dato nur Kenntnis der Pressemitteilungen hatte, lautet seine Meinung: nein. Der Gerichtshof hat die nationalen Gesetzgeber aufgefordert, die Arbeitgeber zu verpflichten, Arbeitszeiterfassungssysteme einzuführen. Das BAG ist nun aber nicht der Gesetzgeber.

Natürlich sagt der gesunde Menschenverstand, dass der Arbeitgeber seine Pflichten aus dem Arbeitszeitgesetz nicht erfüllen kann, wenn er die Arbeitszeit seiner Beschäftigten nicht erfasst. Auch ist die unionsrechtskonforme Auslegung allgemein anerkannt. Das BAG setzt sich aber über ihre Grenzen recht leichthändig hinweg

Im Arbeitszeitgesetz ist ausdrücklich nur geregelt, dass die Arbeitszeit für Überstunden aufgezeichnet werden muss. Es gibt zwar noch weitere Dokumentationspflichten in anderen Gesetzen, diese entsprechen aber nur sehr speziellen Konstellationen. Eine generelle Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist bisher nirgends geregelt.

Hinzu kommt, dass die Ampel-Koalition im Koalitionsvertrag vor neun Monaten angekündigt hat zu prüfen, wie die Arbeitszeiterfassung konkret gesetzlich geregelt werden kann. Das BAG hat den Gesetzgeber jetzt also überholt und setzt ihn auf diese Weise politisch unter Druck. Das ist mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz nicht nur leicht übergriffig, sondern kann sogar dazu führen, dass der Gesetzgeber jetzt gar nichts mehr tut.

Das wäre sehr misslich. Die Ergebnisse einer unionsrechtskonformen Auslegung sind dem Wortlaut der ausgelegten Norm nämlich im Regelfall in keiner Weise zu entnehmen und sorgen deshalb beim Rechtsanwender in der Praxis für erhebliche Rechtsunsicherheit. Weitere traurige Beispiele dafür sind das Massenentlassungs- und das Urlaubsrecht.

 

Sind nun alle Arbeitgeber automatisch zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet?

Im Prinzip ja. In der Pressemitteilung steht einerseits wörtlich, dass der Arbeitgeber nach dem Arbeitsschutzgesetz gesetzlich verpflichtet ist, die Arbeitszeiten der Beschäftigten zu erfassen. Das ist eindeutig. Andererseits hat ein Verstoß gegen diese Vorgabe derzeit keine Folgen. Ein Bußgeld kann nicht verhängt werden, weil es keine entsprechende Vorschrift gibt.

Denkbar ist, dass es jetzt in Prozessen über die Bezahlung von Überstunden zu einer Umkehr der Darlegungs- und Beweislast für deren Anordnung und Erbringung kommt. Bislang tragen sie die klagenden Beschäftigten. Allerdings hat der Fünfte Senat des BAG mit Blick auf das erwähnte Urteil des EuGH erst vor wenigen Monaten das Gegenteil entschieden. Durch den Beschluss des Ersten Senats, der für Lohnklagen nicht zuständig ist, wird sich deshalb vermutlich nichts ändern.

 

Wie geht es weiter?

Der Ball liegt jetzt beim Gesetzgeber. Er muss endlich „in die Puschen kommen“ und die Arbeitszeiterfassung gesetzlich regeln. Nach den Vorgaben des EuGH muss ein objektives, verlässliches und zugängliches System geschaffen werden, mit dem die Arbeitszeit gemessen werden kann.

Der Gerichtshof betont dabei den Spielraum, den die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der konkreten Modalitäten der Arbeitszeiterfassung und deren Form haben. Sie dürfen die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs und die Eigenheiten bestimmter Unternehmen berücksichtigen, beispielweise ihre Größe. Diesen Spielraum möchte man in Berlin offenbar nutzen. Im Koalitionsvertrag heißt es jedenfalls, dass flexible Arbeitszeitmodelle, zum Beispiel Vertrauensarbeitszeit, weiterhin möglich sein müssen.


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Was können wir also erwarten?

Spielraum gibt es nur beim „wie“ der Arbeitszeiterfassung, nicht beim „ob“. Eingeführt werden muss sie also, und zwar für alle Beschäftigten. Beim „wie“ sollte darauf geachtet werden, dass die Vorgaben nicht zu bürokratisch werden und möglichst viel Spielraum lassen. Sinnvoll ist die Möglichkeit, die Aufzeichnung an die Beschäftigten zu delegieren und stichprobenartig zu kontrollieren.

Dass die Vertrauensarbeitszeit verschwinden wird, wie viele beklagten, sieht Prof. Jacobs nicht. Vertrauensarbeitszeit bedeutete schon bisher nicht, dass man arbeitszeitrechtlich machen kann, was man will, sondern nur, dass bei der Erbringung der Arbeitsleistung die Erledigung der vereinbarten Aufgaben im Vordergrund steht und nicht die zeitliche Präsenz der Beschäftigten. Daran wird sich nichts ändern, wenn Beschäftigte künftig selbst ihre Arbeitszeit erfassen und der Arbeitgeber immer wieder mal überprüft.

 

Was bleibt zusammenfassend festzuhalten?

Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass Arbeitszeiten erfasst werden. Insofern ist die Aufregung jedenfalls über das Ergebnis des Beschlusses vom 13. September 2022 übertrieben und vielleicht „eher ein Sturm im Wasserglas als ein Paukenschlag“. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob alle Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes noch in die heutige Zeit passen. Darüber sollte der GG einmal gründlich nachdenken, wenn er das Arbeitszeitgesetz ohnehin in die Hand nimmt.

Text

Emma Schimmel

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