Studieren in Hamburg, Krieg zu Hause

Ein Gespräch mit den ukrainischen MLB-Studierenden Mariia, Andrianna, Roman, Vitaliy und Evgeniya über Familie, Krieg und Heimat

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Es ist acht Jahre her, dass russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind. Am 24. Februar 2022 begann die Invasion in die Ukraine und ein Krieg, der Millionen von Menschen vertrieb. Viele haben ihre Städte und ihr Land verlassen, um an neuen Orten Zuflucht zu finden, während viele andere an der Front geblieben sind.

Wir haben mit Mariia, Andrianna, Roman, Vitaliy und Evgeniya gesprochen, fünf Studierende aus dem MLB-Jahrgang 2022/23, die aus der Ukraine nach Hamburg gekommen sind. Wir wollten wissen, wie es sich anfühlt inmitten eines Krieges weit weg von Familie und Freunden zu sein, wie sie auf Hamburg blicken und welche Unterschiede es zwischen Deutschland und der Ukraine gibt. Das Gespräch fand im Moot Court der Bucerius Law School statt, die Fragen stellte ihre deutsche Kommilitonin Sophia.

Warum Hamburg, warum Bucerius Law School?

Dass es ausgerechnet Hamburg wurde, hatte bei allen fünf ganz unterschiedliche Gründe. Im Vordergrund stand bei allen jedoch die Teilnahme am Bucerius Master of Law and Business Programm mit seiner Verbindung zwischen Rechtswissenschaft und Wirtschaft.

Roman war vor 15 Jahren als Austauschschüler in Deutschland und sein ehemaliger Gastbruder, selbst ein Alumnus der Bucerius Law School, schrieb ihm nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Das, so Roman, war für ihn der Auslöser, sich ebenfalls an der Hochschule zu bewerben.

Auch Vitaliy hatte bereits eine Verbindung in den deutschsprachigen Raum – er verbrachte ein Semester in Wien als Erasmusstudent. Auf die Bucerius Law School wurde er über den Vismoot aufmerksam – und über Prof. Stefan Kröll, Direktor des Center for International Dispute Resolution.

Obwohl erst die Bucerius Law School komme, und dann Hamburg, lebten alle gerne in der Stadt. Evgeniya sagt: „Ich liebe Hamburg! Hamburg ist ein Mann, und ich bin verliebt“. Das Grün, das Wasser, die Kultur und Architektur der Stadt, all das habe es ihr angetan. Und dazu die vielen verschiedenen Menschen an einem Ort – eine Herausforderung, ja. Jedoch auch eine Chance für neue Aufgaben.

Wenn zu Hause Krieg ausbricht…

Der Krieg in der Ukraine bedeutet nicht nur tägliche Gewalt und den Verlust von Menschenleben, sondern wirft für viele Ukrainer*innen auch Fragen nach Identität auf. Mariia wurde in Sewastopol auf der Krim geboren, einer Stadt, in der die russische Flotte stationiert ist und in der die russische Präsenz schon vor 2014 stark ausgebaut wurde. "Ich bin die Einzige in meiner Familie, die sich als Ukrainerin identifiziert", sagt Mariia.

Ihr Cousin war sogar unter den Student*innen, die im Februar 2022 im besetzten Donezk mobilisiert wurden, um auf der russischen Seite gegen die Ukraine zu kämpfen. Dieser Konflikt hat für Mariia und viele andere Menschen aus den früher stark russisch geprägten Regionen eine große Bedeutung. Die Solidarität mit der Ukraine habe ihr geholfen, sich selbst zu finden und ihre Identität zu stärken.

Andrianna musste aus Sumy fliehen – der Stadt, die als eine der ersten auf die russischen Invasoren traf und ihnen Widerstand leistete. Nicht nur Berufssoldaten hätten sich gemeldet, um das Land zu verteidigen, sondern auch normale Bürger*innen und Dorfbewohner*innen schlossen sich zusammen, um ihr Land und ihre Familien zu schützen

"Wenn Du einem russischen Panzer gegenüberstehst und er bereit ist zu schießen (und Dein Leben hier und jetzt beenden kann), dann weißt Du, dass es nicht Putin ist, der da sitzt. Wenn Du weit weg von einem solchen Panzer bist, Deine jungen und schönen Freunde nicht sterben und eine russische Rakete nicht Dein Haus zerstört, dann kannst Du das Gefühl nicht so einfach nachvollziehen", so Andrianna.

Nach diesen Erfahrungen sieht Andrianna das Leben mit anderen Augen – was ist wirklich wichtig im Leben?  "Das sind Familie, Freunde und Beziehungen. Sie fordert, dass die geopolitischen Interessen der Länder, die zögern, die Ukraine offen zu unterstützen und Waffen zu liefern, angesichts des Krieges und der lebenswichtigen Notwendigkeit für den Sieg der gesamten zivilisierten Welt über Russland zurückgestellt werden sollten.

Der Krieg hat nicht nur Träume und Ziele beendet, sondern auch eine große Unsicherheit mit sich gebracht. "Das Schlimmste ist die Ungewissheit – über alles, über die nächsten Minuten, Tage, das Leben", sagt Vitaliy. Dennoch ist er sich sicher, dass die Ukraine erfolgreich aus diesem Krieg hervorgehen wird. "Wir kämpfen nicht nur für unsere Demokratie, sondern für die Demokratie in der EU und in der ganzen Welt. Wir sind sicher, dass wir diesen Krieg gewinnen werden – wir wissen nur nicht, wann."

…und man selbst weit weg ist

Mariia, Andrianna, Roman, Vitaliy und Evgeniya trafen in Deutschland nicht auf Mitleid, sondern Solidarität. Das habe sie zunächst erstaunt, vor allem aber erleichtert. „Das schlimmste ist das Mitleid. Denn wir sind nicht arm, wir sind starke Ukrainer*innen“, sagt Mariia. Als solche fühlen sie sich auch wahrgenommen. Kommiliton*innen würden positive Messages in Gruppenchats teilen, neugierige, teils sehr persönliche Fragen stellen und sich mit ihnen gemeinsam über gute Nachrichten freuen.

Schlechte Nachrichten zeigen jedoch immer wieder auf, wie hilflos auch sie sich fühlen, wenn sie auf die Situation in der Ukraine blicken. Da sein, helfen, das gehe nicht, traurig sein, das gehe eigentlich auch nicht, wo man selbst doch in Sicherheit sei, sagt Mariia.

Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, Nutzlosigkeit und Zerrissenheit teilen alle. Evgeniya nennt es zwei Welten nebeneinander, Deutschland und Ukraine. Hier das normale Leben zu leben, und dabei in der Ukraine das Gegenteil zu sehen, sei die größte Herausforderung.

Jeden Tag die Nachrichten von zu Hause zu sehen und dann mit den Gefühlen umzugehen, die sie überkommen, fällt ihr schwer. Es sei sehr emotional für alle, mit der inneren Aufruhr im Alltag umzugehen und jeden Tag von neuem eine große Aufgabe. „Das Gefühl, dass du nicht helfen kannst, ist die größte Herausforderung.“

Der größte Unterschied zur Ukraine

„Wenn ich meine deutschen Freund*innen zum Weinen bringen will, zeige ich ihnen unsere Regierungsapp 'Dija'", sagt Mariia. Die Abwesenheit von Digitalisierung in der deutschen Bürokratie und im deutschen Alltag sei ihr besonders aufgefallen, vor allem im Vergleich zur Ukraine, die den meisten westeuropäischen Ländern voraus sei. Dafür könne Berlin wenigstens mit dem Nachtleben in Kiew mithalten.

Andrianna stellt fest, dass vielen Menschen in Deutschland der Wunsch nach beruflicher Unabhängigkeit fehle. Ganz anders in der Ukraine, wo ein großer Teil der jungen und talentierten Menschen danach strebe, ein Unternehmen zu gründen (prominente Beispiele sind Grammarly, Preply und Reface AI). Sie hätten keine Angst davor, ein unternehmerisches Risiko einzugehen.

Evgeniya fasziniere, wie die deutsche ältere Bevölkerung lebe. In Deutschland sei es normal, dass Rentner*innen am öffentlichen Leben teilnähmen. Dies sei ein „inspirierendes Beispiel, wie man sein Leben auch später noch leben kann.“ In der Ukraine sei das aufgrund der niedrigen Pensionen anders. Alte Menschen im Café, im Museum oder auf Reisen zu sehen, sei eine Seltenheit.

Ukrainer*innen in Hamburg

Neben dem Studium bleibt wenig Zeit, sich in einer ukrainischen Community zu engagieren. Alle betonen jedoch, wie wichtig es sei, die ukrainische Fahne auf der Straße zu sehen und die ukrainische Sprache im Alltag zu hören, das spende Unterstützung und Kraft. Auch der Austausch mit anderen Menschen, die vom Krieg und seinen Folgen betroffen sind, aber nicht aufgegeben haben, nimmt ihnen eine gewisse Last von den Schultern.

Vitaliy schätzt die katholisch-ukrainischen Kirche in Hamburg, der eine große Gemeinschaft angehört. Sie stifte Rat und Hilfe für Ukrainer*innen in Hamburg und sei Anlaufstelle, wenn man Traditionen teilen oder Freunde treffen oder finden will. Sie helfe besonders dabei, sich zu erinnern, warum man hier sei oder wenn man ein Gefühl von Einheit und Gemeinschaft brauche.

Die Zukunft – unsicher, sicher

Alle möchten irgendwann wieder in der Ukraine sein. „Ich habe nie damit gerechnet, nicht in der Ukraine zu leben“, sagt Mariia. Sie würde gerne helfen, die Ukraine wieder aufzubauen, wenn es dann irgendwann möglich sei. Ihr größter Wunsch sei es aber, zur Krim zu fahren, dort schwimmen und tauchen zu gehen.

Andrianna versucht, nicht langfristig, sondern möglichst kurzfristig zu planen. Es war sehr schwierig für sie zu akzeptieren, dass eine sichere Zukunft in der Ukraine Zeit braucht. „Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon.“ Bis es so weit ist, wolle sie dabei helfen, ihren Landsleuten mit Gesprächen und Unterstützung unter die Arme zu greifen. 

Auch Vitaliy möchte wieder in der Ukraine leben. Dieser Wunsch habe sich in ihm gefestigt, seitdem er in Westeuropa lebe. Er und alle Ukrainer*innen würden sich für eine starke Zukunft der Ukraine engagieren, für die nächste Generation der Ukraine und der Welt. Die Möglichkeiten und Chancen in der Ukraine werden, so ist er sich sicher, nach dem Krieg größer sein als vorher und er sei bereit, sie zu nutzen.

Mariia, Andrianna, Roman, Vitaliy und Evgeniya betonen, wie dankbar sie seien, an der Bucerius Law School studieren zu können. Besonderer Dank gehe an Prof. Christopher Bisping, an Präsidentin Prof. Katharina Boele-Woelki sowie an alle Mitarbeitenden für die Unterstützung. Es sei schön über die Ukraine zu sprechen und zu informieren. Die Einladung an die Kommilitonin Sophia, sie in der Ukraine zu besuchen, steht bereits.

In den Worten des ukrainischen Präsidenten Selenskyj: „Es gibt 45 Millionen Ukrainer*innen, aber nur einen Wunsch: Zu gewinnen.

Text

Florian Helwich, Emma Schimmel

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