Diversität im Recht und in der juristischen Ausbildung

Diversität bereichert nicht nur Kultur und Gesellschaft, sondern auch das Recht. Warum das so ist und wie die Bucerius Law School dazu beiträgt

Diversität: Jede*r hat eine Meinung – wer hat Recht?

Es gibt wenige Themen, die hierzulande so kontrovers diskutiert werden wie Diversität. Für viele Menschen ist nicht nur der Diskurs dazu überfällig, sondern bedarf es rechtlicher Rahmenbedingungen, die Diversität begünstigen. Andere halten Diversity für wichtig, aber nicht in Form von Vorschriften und Gesetzen. Wer hat also Recht? Feststeht: Es wurde noch nie so viel über Diversität gesprochen wie heute.

Vielfalt als Bereicherung für das Rechtssystem

Was bewirkt der Diskurs um mehr Diversität, wenn sich dies nicht auch in unserem Recht widerspiegelt? Genau diese Frage ist Gegenstand des kürzlich erschienenen Essays Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, den Professor Dr. Mehrdad Payandeh, Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht, Europarecht und Öffentliches Recht und stellvertretende Gleichstellungsperson an der Bucerius Law School, mitverfasst hat. Er ist überzeugt: Unser Rechtssystem profitiert von mehr Diversität.

„Einfluss auf das Recht zu nehmen ist wichtig“, so Payandeh. „Die Rechtsanwendung ist nur in einer Utopie neutral und objektiv. Das betrifft auch die Auslegung von Rechtsnormen, bei der immer auch Subjektivität eine Rolle spielt. Daher macht es einen Unterschied, ob sich am Diskurs über die Auslegung von Rechtsnormen nur Männer oder auch Frauen beteiligen und ob das Wissen und die Perspektive von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen mit einfließen.“

Fehlende Diversität sei auch ein Problem für das Rechtssystem und für die Gesellschaft, so Payandeh. Menschen müssten sich im System „repräsentiert“ fühlen. Außerdem gingen dem deutschen Rechtssystem generell Talente verloren, ebenso wie die Vielfalt an Perspektiven.

Diversität bereits in der juristischen Ausbildung

Die Privatwirtschaft habe den Mehrwert von Diversität bereits erkannt – vor dem akademischen Sektor, erklärt Mehrdad Payandeh. Zudem spiele das Thema gerade bei international tätigen Kanzleien oder internationalen Kanzleien eine große Rolle, weil auch die Mandant*innen Diversität erwarten und abfragen. Doch wie sensibilisiert man angehende Jurist*innen für Diversitätsthemen? Und wie erreicht man eine größere Vielfalt an den deutschen Jurafakultäten?

Perspektivenwechsel als Verantwortung der Professor*innen

In Deutschland könne man eine juristische Ausbildung erfolgreich durchlaufen, ohne ernsthaft mit Fragen von Diskriminierung oder Privilegien konfrontiert zu werden, heißt es im Essay von Co-Autor Payandeh. In den USA gebe es beispielsweise bereits seit den 70er Jahren die Critical Race Theory, eine rechtswissenschaftliche Bewegung, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Rasse, Rassismus und deren rechtlichen Verankerung befasst.

In Deutschland gibt es solch eine Theorie nicht, obwohl es mit Blick auf die eigene Kolonialgeschichte durchaus denkbar wäre. Eine kritische Auseinandersetzung mit den im Recht verankerten Strukturen fände jedoch in der juristischen Ausbildung keine ausreichende Beachtung, kritisiert Payandeh. „Das aufs Staatsexamen zugeschnittene Studium macht es schwierig, sich überhaupt mit theoretischen Ansätzen zum Recht zu befassen. Theorieangebote aus dem Ausland haben es da noch schwerer.“ Dennoch ist er zuversichtlich, dass der kritische Blick aufs Recht bereits im Jurastudium geschärft werden kann.

„An der Bucerius Law School werden mittlerweile entsprechende Grundlagen- und Wahlveranstaltungen angeboten. Der neu berufene Kollege Felix Hanschmann auf dem Lehrstuhl Kritik des Rechts wird hierzu sicherlich auch noch Einiges beitragen.“ Auch Payandeh selbst bietet regelmäßig Seminare und Kolloquien zu Themen aus dem Bereich Antidiskriminierungsrecht an, in denen auch kritische Ansätze ihren Raum haben. Sein Fazit: „Es liegt an uns Professor*innen, diese Perspektive, wo immer es sich anbietet, anzusprechen.“

Gelebte Vielfalt – das ist leichter gesagt als getan

Doch vielfältige Perspektiven zu vertreten, gestaltet sich schwierig, wenn in der Praxis die Vielfalt fehlt. Das Problem: Alle deutschen rechtswissenschaftlichen Fakultäten – so auch die Bucerius Law School – verzeichnen unter den Fakultätsmitgliedern geringere Frauenanteile und selten Migrationshintergründe.

Andrea Leuck-Baumanns, Gleichstellungsperson an der Bucerius Law School und selbst Rechtsanwältin, sieht bei diesem Thema besonders großen Entwicklungsbedarf: „Unter unseren Professor*innen verzeichnen wir derzeit 18,2 % Frauen, eine von ihnen steht erfreulicherweise an der Spitze unserer Institution.

Die Zusammensetzung der Professor*innenschaft sei Abbild des generellen Problems. „Rechtsetzung war lange Zeit männlich und weiß geprägt, Rechtswissenschaft und -praxis ebenfalls. Nach und nach zieht das Bewusstsein für das Erfordernis einer größeren Vielfalt ein“, so Leuck-Baumanns. Dies beziehe sich nicht nur auf die Lehrinhalte, sondern auch auf die Zusammensetzung von Fakultät und Studierendenschaft.

Es müssen Fakten geschaffen werden, aber wie?

„In Bezug auf die Geschlechterverteilung ist der Anteil von Frauen und Männern in der Studierendenschaft unserer Hochschule erfreulicherweise fast ausgeglichen, im Jahrgang 2021 sind es sogar jeweils 50 %.“, so Leuck-Baumanns. Besonders optimistisch stimme der wachsende Anteil an Bewerber*innen aus nichtakademischen Haushalten und mit Migrationshintergrund, um dessen Steigerung sich die Bucerius Law School aktiv bemühe.

Die zahlenmäßige Erfassung von Diversitätsfaktoren sei dabei ein wichtiger Baustein. Um eine etwaige Unterrepräsentanz auszumachen, braucht es möglichst aussagekräftige Daten. „Nur so können wir erkennen, inwieweit wir unserem Diversitätsanspruch gerecht werden, und entsprechende Maßnahmen ergreifen.“, so Leuck-Baumanns.

Führt mehr Datenerhebung aber nicht auch zu mehr Diskriminierung? Laut Mehrdad Payandeh ein Dauerthema: „Diese Diskussion wird schon sehr lange geführt. Das Stigmatisierungsproblem ist dabei ebenso ernst zu nehmen wie das Missbrauchsproblem und die Datenschutzproblematik.“ Der Rechtswissenschaftler plädiert für eine Erhebung, die auf Freiwilligkeit basiert, Anonymität gewährleistet und auf Selbstkategorisierung der Betroffenen beruht und damit an internationale Standards anknüpfen kann.

Umfragen wie diese helfen der Hochschule, so Leuck-Baumanns, frühzeitig Tendenzen zu erkennen und den Ursachen eines möglichen Ungleichgewichts auf den Grund zu gehen. Auf diese Weise lässt sich z.B. untersuchen, weshalb der aktuelle Anteil von Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern geringer ausfällt als der Anteil der Personen, die sich ursprünglich beworben haben.

Der Weg zu mehr Diversität – was die Bucerius Law School tut

Andrea Leuck-Baumanns setzt sich seit Jahren für mehr Chancengleichheit an der Stiftungshochschule in Hamburg ein: „Wir arbeiten daran, unter anderem Bewerber*innen mit bildungsbiografischen Hürden für ein Studium an der Bucerius Law School zu gewinnen. Dafür haben wir beispielsweise das Chancenstipendium ins Leben gerufen und das Deutschlandstipendium erweitert. Wir wollen außerdem bei unseren eigenen Studierenden und Mitarbeiter*innen das Bewusstsein für den Umgang mit Diversität schärfen und mehr Diversität auf allen Ebenen schaffen. Auch bei der Besetzung von Stellen und Lehrstühlen achten wir darauf und ergreifen aktiv Maßnahmen insbesondere Frauen auf Ausschreibungen aufmerksam zu machen.“

Die Hochschule arbeite in diesem Kontext kontinuierlich an einer Erhöhung der Gendersensibilität u.a. durch

  • Vorträge, Workshops und öffentliche Veranstaltungen zu Gender- und Diversity-Themen
  • die gezielte Auswahl von Redner*innen, Podiumszusammensetzung und Gremienzusammensetzung,
  • Unconscious Bias - u.ä. Trainings
  • die aktive Mitgliedschaft im Zentrum für Gender und Diversity der wissenschaftlichen Einrichtungen in Hamburg sowie
  • die Anwendung einer gendersensiblen Sprache

Leuck-Baumanns sieht die Hochschule „auf dem Weg“. Ein enger Austausch mit den für Wissenschaft und Lehre Verantwortlichen sei dabei ebenso wichtig wie der Austausch mit den Studierenden, der SV, der Hochschulgruppe WoMen in Law und den Mitarbeitenden in der Verwaltung.

Wie kommt es, dass Diversität so stark aneckt?

Insbesondere das Thema der (gender-)sensiblen Sprache hat leidenschaftliche Diskussionen hervorgerufen. Innerhalb der Hochschulgemeinschaft herrschen vielfältige Meinungen. Wie kommt es aber, dass die Debatte um eine divers geprägte Sprache und Gesellschaft teils so vehement geführt wird? Für Andrea Leuck-Baumanns hat dies mit einer an Angst vor Veränderung gekoppelten Überforderung zu tun.: „Die Diskussion um Diversity rüttelt an tradierten Gesellschafts- und Machtstrukturen.“

Sie ist anstrengend, denn sie fordert, individuelles Verhalten und äußere Strukturen zu hinterfragen, so Leuck-Baumanns. Auch Mehrdad Payandeh sieht die Angst vor sich ändernden Machtstrukturen als eine Ursache. Er plädiert jedoch für eine Versachlichung der Diskussion: „Es geht nicht um einen moralischen Vorwurf. Mangelnde Repräsentation von Frauen oder People of Color sind nicht das Resultat sexistischer oder rassistischer Haltungen der entscheidenden Personen. Die Ursachen sind komplex und vielfältig.“

Unterm Strich ist es wichtig, so Payandeh, sachlich und nüchtern zu diskutieren, ohne dass damit individuelle Vorwürfe verbunden sind. Vielfach gehe es zunächst darum zu thematisieren, dass es ein Diversitätsdefizit gibt, und mögliche Ursachen auszumachen. Payandeh: „Wichtig ist die Herstellung von Chancengleichheit.“

Es braucht konkrete Forderungen an die Politik

Bei so viel Sachlichkeit und objektiver Betrachtung des Rechts, die Payandeh fordert, lässt sich die Frage stellen, weshalb die Erwähnung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz für ihn dennoch bedenkenswert ist und er sich im Bundestag kürzlich für dessen Streichung ausgesprochen hat. „Das Problem des Begriffs liegt darin“, so Payandeh, „dass er Vorstellungen davon transportiert, dass sich Menschen nach bestimmten Merkmalen einteilen lassen sollten.“

Dann sei der Schluss nicht weit, dass dieser Einteilung auch eine tatsächliche Bedeutung zukomme. „Wir sprechen hier zudem über einen Rechtsbegriff, Gerichte und andere rechtsanwendenden Instanzen müssen den Begriff definieren und auf einen Sachverhalt anwenden. Das führt zu Missverständnissen, etwa wenn Beleidigungen von arabisch- oder türkischstämmigen Personen nicht als rassistisch verstanden werden, weil es sich bei „Arabern“ oder „Türken“ nicht um „Rassen“ handele.“

Im schlimmsten Fall werde damit eine rassistische Diskriminierung im Gerichtssaal reproduziert und außerhalb des Gerichtssaals verstärkt. Das passiere z.B. dann, „wenn eine Schwarze Person, die bei einer polizeilichen Kontrolle im Zug als einzige nach ihrem Ausweis gefragt wurde, sich anhören muss, dass diese Kontrolle aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ erfolgt ist.“ Den Begriff zu streichen sei somit nicht nur Symbolik, sondern habe Einfluss darauf, wie wir Menschen im Alltag begegnen.

Text

Florian Helwich

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